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Titel
Jugend beobachten. Debatten in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft in der Schweiz, 1945-1979


Autor(en)
Bühler, Rahel
Erschienen
Zürich 2019: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 48,00
von
Vera Blaser, Abteilung Schweizer Geschichte, Historisches Institut der Universität Bern

In ihrer 2016 an der Universität Zürich verteidigten Dissertation Jugend beobachten geht Rahel Bühler der Frage nach, wie Jugend in der Schweiz der Nachkriegszeit durch verschiedene Akteure aus Politik, Wissenschaft und der medialen Öffentlichkeit problematisiert und thematisiert sowie als gesellschaftliche Gruppe konturiert wurde. Sie legt weiter dar, wie sich Jugend zu einem «wissensbasierten Politikfeld» (S. 13) auf eidgenössischer Ebene entwickelte. Das Erkenntnisinteresse gilt weniger den Jugendlichen selbst, sondern vielmehr den Wissensproduzenten. Damit greift die Autorin ein wichtiges Desiderat der neuen Wissensgeschichte auf, deren Ziel es ist, vermehrt Prozesse der Wissensproduktion zu untersuchen und Verflechtungen zwischen unterschiedlichen Wissensformen – hier namentlich «mediale, wissenschaftliche und politische Diskurse, Problematisierungsmuster und Leitbilder zu Jugend» (S. 12) – in den Blick zu nehmen.

Methodisch ist die Studie weitgehend einer diskursanalytischen Perspektive verpflichtet. Mit der kritischen und fruchtbaren Weiterentwicklung des Konzepts der «Verwissenschaftlichung des Sozialen» (Lutz Raphael) umfasst sie aber auch akteurszentrierte Ansätze aus der neueren Sozialgeschichtsschreibung.

Im Zentrum von Bühlers Untersuchung stehen drei Schweizer Jugendstudien, die in den Jahren 1967–1974 entstanden sind und zu den ersten und wichtigsten ihrer Art zählen. Es handelt sich dabei um die von halb- und nichtstaatlichen Akteuren initiierte Studie Jugend und Gesellschaft, um den soziologischen Teil der Zürcher Studie Zur Unrast der Jugend, die von Stadt und Kanton gemeinsam getragen und von – ausnahmslos männlichen – Soziologen der Universität Zürich umgesetzt wurde, sowie dem Jugendbericht einer Studiengruppe des Eidgenössischen Departements des Inneren (EDI).

Gerahmt wird die Analyse der drei Studien von zwei Kapiteln, die sich mit dem Mediendiskurs über Jugend im Vorfeld resp. Nachgang der Studienproduktion befassen.

Kapitel 2 ist der Periodisierung verpflichtet: Die Autorin elaboriert die These, dass Jugend in der Schweiz erstmals Mitte der 1960er Jahre als relativ homogene und «distinktive soziale Gruppe» (S. 76) konstituiert wurde. In der unmittelbaren Nachkriegszeit waren Jugendliche als mehrheitlich gesellschaftlich konform wahrgenommen worden, lediglich das Verhalten einzelner Jugendlicher oder kleiner Gruppen wurde problematisiert. Debatten über Modernität und gesellschaftlichen Wandel sowie Generationenkonflikte waren Auslöser für den diskursiven Bruch, der durch die zunehmend sensationsheischenden Massenmedien zusätzlich verstärkt wurde, die mit ihrem geradezu «ethnographischen Blick» (S. 86) auf die Jugend Alterität zwischen den Generationen erzeugten.

Kapitel 3 geht den Forderungen nach der Produktion von Jugendwissen nach. «Halb- und nichtstaatliche Akteure» (S. 92), namentlich die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Jugendverbände (SAJV) und die Schweizerische Nationale Unesco-Kommission (NSUK), hatten vor dem Hintergrund transnationaler Jugenddebatten bereits in den 1950er Jahren Forderungen nach Jugendstudien gestellt und auch erste Studienprojekte geplant. Diese scheiterten jedoch an der Finanzierung. Erst durch den Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung Mitte der 1960er Jahre fanden die Forderungen politisch Gehör. Ein wichtiges Argument war dabei das für die Schweiz konstatierte Wissensdefizit im Vergleich zu anderen Ländern. In Abgrenzung zu bisheriger Forschung schreibt Bühler den Jugendunruhen im Jahr 1968 lediglich eine katalytische Wirkung zu.

Das Folgekapitel nimmt die Akteure und Methoden der Studien in den Blick und beleuchtet das Spannungsfeld der Wissensproduktion zwischen wissenschaftlichen Ansprüchen und politischen Interessen. Mit Fokus auf die Zürcher Studie bezeichnet Bühler den Expertenstatus der Forscher als prekär, da der Produktionsprozess stets mit den Auftraggebern aus Politik und Verwaltung ausgehandelt werden musste. Gleichzeitig bot die Studie dem noch jungen Soziologischen Institut der Universität Zürich aber auch eine Chance zur Profilierung.

Die Resultate der Studien und ihre Rezeption werden in Kapitel 5 diskutiert. Sämtliche Studien knüpften an die öffentliche Wahrnehmung einer «isolierten», mit der Gesellschaft in Konflikt stehenden Jugend an und verstärkten diese teilweise noch. Hier vertieft Bühler ihre These, dass es sich beim öffentlichen Reden über die Jugend um eine Stellvertreterdebatte über gesellschaftlichen Wandel und Modernisierungsprozesse handelte. Obwohl die Reaktionen auf die Studienpublikation mehrheitlich kritisch ausfielen, verhalfen die Krisensemantik und die Projektion von Zukunftsängsten auf die Jugend den Studienproduzenten zu Legitimation und politischer Einflussnahme: In der Folge wurde eine eidgenössische Jugendkommission gegründet, die SAJV profitierte zudem von Bundesgeldern.

Im Abschlusskapitel, das erneut dem medialen Diskurs gewidmet ist, wird deutlich, dass die Resultate beim Erscheinen der Studien bereits überholt waren. Die Jugend wurde erneut als weitgehend konform wahrgenommen und dargestellt. Nicht zuletzt ist dies darauf zurückzuführen, dass Jugendliche kaum in die Wissensproduktion mit einbezogen worden waren und die Studienverfasser so mindestens teilweise an den Themen und Bedürfnissen der Jugend vorbeiforschten. Bühlers Untersuchungszeitraum endet 1979 mit dem Ausblick auf die neuerlichen Jugendunruhen von 1980: Da die Umsetzung einer partizipativen Jugendpolitik auch im Nachgang der Studienveröffentlichung nicht gelungen sei, reagierte ein Grossteil der Öffentlichkeit überrascht über die Generationendifferenzen. Bühler legt damit überzeugend dar, dass die wirtschaftshistorisch relevanten Krisenjahre 1973/74 als gesellschaftspolitische Zäsur hinterfragt werden müssen. Die bereits in den 1960er Jahren angestossenen «Pluralisierungs- und Liberalisierungsprozesse» (S. 277) wurden erst zwanzig Jahre später breitenwirksam. Bühler kommt zum Schluss, dass das öffentliche Reden über Jugend stets vielmehr eine gesellschaftliche «Selbstbespiegelung» als ein realgetreues Bild der jungen Generation darstellt.

Dank ihres differenzierten Blicks auf die Interessen der unterschiedlichen Akteure der Wissensproduktion im Feld der Jugendpolitik gelingt es Bühler überzeugend darzustellen, dass die Jugend in öffentlichen Debatten vielmehr als «Seismograph» (S. 14) für allgemeine gesellschaftliche Auseinandersetzungen verstanden werden muss. Folgerichtig heisst es im Fazit nicht mehr Jugend beobachten sondern Die Gesellschaft beobachtet sich selbst.

Die breite Quellenbasis, auf der die Studie basiert, ist positiv hervorzuheben. Insbesondere der Einbezug von graphischen Quellen (Fotographien und Karikaturen) ist für ein plastisches Verständnis der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Jugend hilfreich.

Bedauerlich ist einzig, dass – obwohl in der Einleitung angekündigt – eine geschlechterhistorische Perspektive kaum einfliesst. Das Buch hätte davon profitiert,wenn der zwar beschriebene einseitige Blick der Studien auf männliche Jugendliche geschlechtertheoretisch fundiert diskutiert worden wäre, impliziert dieser Fokus der Studienverfassenden (selbst grossmehrheitlich Männer) doch auch, welche Personen als zukünftig gesellschaftlich wirkmächtige Subjekte aufgefasst wurden.

Zitierweise:
Blaser, Vera: Rezension zu: Bühler, Rahel: Jugend beobachten. Debatten in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft in der Schweiz, 1945–1979, Zürich 2019. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 216-218. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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